Biologie: 4000 Kilometer am Stück: Die Rekordwanderung des Distelfalters
Nicht nur Vögel legen weite Strecken zurück zwischen Brut- und Überwinterungsgebieten. Kaum zu glauben ist, was der nicht einmal ein Gramm leichte, heimische Distelfalter vollbringt
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Nicht nur Vögel legen weite Strecken zurück zwischen Brut- und Überwinterungsgebieten. Kaum zu glauben ist, was der nicht einmal ein Gramm leichte, heimische Distelfalter vollbringt
Es ist ein bezaubernder Anblick: Schmetterlinge, die im Sommer von Blüte zu Blüte gaukeln, sind der Inbegriff von Leichtigkeit und Sorglosigkeit. Doch die fragil wirkenden Insekten sind alles andere als ziellos. Einige von ihnen sind sogar echte Fernwanderer, im Tierreich nur noch zu vergleichen mit den Zugvögeln. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist der Monarchfalter, der Tausende Kilometer zwischen Nord- und Mittelamerika zurücklegt. Und auch bei uns gibt es Wanderfalter, die nicht weniger Erstaunliches vollbringen. Zum Beispiel den Distelfalter (Vanessa cardui).
Der Schmetterling gehört zu den sogenannten Edelfaltern – und zählt mit einer Spannweite von bis zu sechs Zentimetern zu den größeren unserer heimischen Falter. Und zu den besonders schönen: Seine Fügel-Oberseiten sind an den Spitzen schwarz-weiß, ansonsten rostrot-schwarz gepunktet. Zusammengeklappt, fallen auf der Unterseite des hinteren Flügelpaares Augenflecke auf, die an die Feder-"Augen" von Pfauen erinnern.
Wie der Name vermuten lässt, gehört der Nektar von Disteln zur Lieblingsspeise der Falter. Daher auch der lateinische Name (Carduus = Distel). Seine Raupen beknabbern neben Disteln auch Brennnesseln. Dass manche der Tiere bei der Futtersuche ein bisschen mitgenommen und an den Flügelrändern zerfranst aussehen, hat einen Grund: Es sind Spuren einer langen, kräftezehrenden Reise.
Distelfalter sind Mehr-Generationen-Weltenbummler
Streng genommen ist der Distelfalter ein Gast, der aus südlicheren Gefilden zu uns in die Sommerfrische kommt: Die Raupen und Puppen überstehen den Frost in unseren Breiten nicht, und die geschlüpften Falter leben ohnehin nur etwa zwei bis drei Wochen.Folge: 21
Allerdings ist die Reise dieser Schmetterlinge nicht vergleichbar mit dem Vogelzug: Während einzelne Zugvögel in ihrem Leben mehrfach zwischen ihren Brut- und Überwinterungsgebieten hin- und herpendeln, ist die Reise der Schmetterlinge ein zyklisches Mehr-Generationen-Projekt.
Fangen wir in Norddeutschland an: Ein Falter schlüpft im Herbst an einer Distel in Schleswig-Holstein und macht sich schnurstracks auf die Reise gen Süden. Er überquert mit etwas Glück die Gletscher und Passhöhen der Alpen – und dann, mit günstigen Winden, das Mittelmeer. Sein Winterdomizil schlägt er in Afrika nördlich oder südlich der Sahara auf, von Westafrika bis ins äthiopische Hochland.
GEO+ SchmetterlingspuppenEin Schmetterling, der im Schnitt nicht einmal 200 Milligramm auf die Waage bringt, legt also die unglaubliche Strecke von 4000 Kilometern zurück. Und ist in der Welt der Insekten damit Rekordhalter in der Disziplin "längste Nonstop-Wanderung".
Bei der Rückreise lassen es die Falter dann etwas ruhiger angehen: Aus Afrika ziehen sie ans Mittelmeer, wo die nächste Generation heranwächst. Oft nutzen sie für diese Etappe quer durch die Sahara günstige nördliche Winde in einer Höhe von etwa drei Kilometern. Trotz der "Laufband"-Nutzung ist Durchhaltevermögen gefragt: Ein einzelner, frisch geschlüpfter Falter kann ohne Stopover bis zu 40 Stunden fliegen.
Die folgende Generation zieht dann weiter Richtung Norden, bis nach Mitteleuropa. Und von hier aus gelangt eine dritte Generation sogar bis nach Skandinavien und in das Baltikum.
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Deutschland erreichen die meisten Falter aus dem Süden zwischen Mai und Juli. In manchen Jahren sind es so viele, dass man von Masseneinflügen spricht. Auf Citizen-Science-Plattformen wie naturgucker.de überschlugen sich in den Jahren 2009 und 2019 die Meldungen.
Wie die Falter diese enormen Distanzen bewältigen – und woher jede Generation weiß, in welche Richtung sie fliegen muss – das ist von der Forschung noch nicht restlos verstanden. Zwar scheint die Grund-Zugrichtung genetisch vorgegeben zu sein. Sonst würde das ganze Projekt der Wanderung über mehrere Generationen schlichtweg nicht funktionieren. Wie weit die Tiere aber Richtung Süden wandern – ob nur bis nach Nordafrika oder über die Sahara hinaus –, das liegt offenbar nicht in den Genen, wie neuere Forschungen gezeigt haben.
Tagsüber orientieren sich die Falter wahrscheinlich am Stand der Sonne. Außerdem hangeln sie sich gerne an markanten Landschaftsstrukturen wie Flüssen und Höhenzügen entlang: Wenn die Grundrichtung stimmt, gibt es für die zerbrechlich wirkenden Schmetterlinge kein Halten mehr.